»Einfachheit ist die höchste Form der Raffinesse«

(Leonardo da Vinci)

Ein Versuch, gute Gestaltung zu definieren.

Was ist gute Gestaltung ?
Kann man die Frage jenseits aller Geschmacksvorlieben beantworten ?
Gibt es dafür eine generelle Formel, die Vergangenheit und Zukunft umfaßt ?

 

— Klarheit, Einfachheit

Grafik-Design ist keine Kunst, denn diese muß offen und vieldeutig sein. Jede Generation entdeckt andere Facetten an einem Kunstwerk. Künstler, die in Vergessenheit geraten, können wiederentdeckt werden. Jeder kann andere Assoziationen zu Werken der Bildenden Kunst haben. Die Deutung ist nichtfestgelegt. Wenn Grafik-Design mit Künstler-Attitude gemacht wird, negiert es die dienende Funktion.
Corporate-Design für Unternehmen hat militärische Wurzeln. Die Kennzeichnung von Soldaten, Fahnen und Kriegsgerät darf nicht zu Verwechslungen führen, muß friendly fire unter allen Umständen vermeiden. Deutliche Unterscheidbarkeit ist Bedingung.

Eingangshalle der Firma presse-union mit Zeitschriften-Titelseiten aus dem Jahr 1956, dem Gründungsjahr der Firma

Eine Idee zu diesem Traktat bekam ich durch die presse union, einer Zeitschriften-Vertriebsfirma, die mich beauftragte, für ihre Eingangshalle ein Tableau von Titelseiten aus dem Jahr ihrer Gründung (1956) zusammenzustellen. Bei der Auswahl der Titelseiten (aus der eigenen Sammlung) fällt auf, daß einige Titel, auch nach 65 Jahren, noch modern anmuten und andere ihre Entstehungszeit nicht verleugnen können und entsprechend gealtert sind. Welche Cover haben nun eine modernere Anmutung als der Rest und welche Gestaltungselemente sind dafür verantwortlich ? Zwei Titel würde man auf den ersten Blick nicht dem Jahr 1956 zuordnen : ›Vogue‹, und ›Du‹. Eine Gemeinsamkeit dieser 2 Titelseiten findet man in der Reduktion und Klarheit, die ihre Plakativität ausmacht. Es gibt nichts überflüssiges, der Gestalter verzichtet auf jegliches Beiwerk, das ablenken könnte. Wesentlich ist auch die Beschränkung auf sehr wenig Text. Wenn man sich die Cover am Kiosk vorstellt, haben die beiden Titel einen höheren Aufmerksamkeitswert als die kleinteiligen Titel.
Auch wenn die 2 Titel moderner als die anderen erscheinen, kann man sie nicht zeitlos nennen. Zeitlosigkeit kann trotz aller Reduktion nicht erreicht werden. Die – angeblich zeitlosen – Bauhaus-Stühle sind mühelos den 20er Jahren zuzuordnen.

In einer 400qm großen Halle in Grafing stapeln sich tausende von Magazinen und Büchern

Sammlung Moser (Grafing) 2022.

Dies ist kein Manifest, in dem mit unversöhnlichem Eifer endgültige Gebote formuliert werden. Es ist ein Plädoyer für Klarheit und Einfachheit in der Gestaltung, nicht zuletzt inspiriert vom Zitat Albert Einsteins »Alles sollte so einfach wie möglich sein, aber nicht einfacher.« Seine berühmte Formel E = mc² (Äquivalenz von Masse und Energie) ist Einfachheit in Vollendung. Dieser Versuch oder etwas ambitionierter, dieses Traktat, ist entstanden, um mir selbst Gewißheit zu verschaffen, was gute Gestaltung ausmacht und mit welchen Strategien man solche Ergebnisse erzielen kann. Der Ausgangspunkt ist die eigene Erfahrung, aber jenseits der persönlichen Überzeugung soll die Zielsetzung allgemein gültig sein.

Für ein derartiges Projekt ist es hilfreich, auf eine langjährige praktische Erfahrung zurückblicken zu können. Man nimmt ja allgemein an, daß Musiker oder Wissenschaftler mindestens 10.000 Stunden Praxis brauchen, um ihre Disziplinen zu beherrschen. Für Gestalter gilt das ebenfalls.
Ich habe ca. 5000 Bücher und 10.000 Magazinseiten gestaltet* ein paar Dutzend Plakate, Geschäftsberichte, Kalender, Ausstellungen etc. Dazu kommen einige Bücher von mir zum Thema Gestaltung und viele hundert Seiten Magazinbeiträge über Design und Designgeschichte. Ich habe auf diversen Konferenzen unzählige Vorträge gehört und ca. zwei Dutzend selbst gehalten. Ich kann behaupten, daß mir alle Facetten und Positionen in diesem Beruf bekannt sind.
Nicht zuletzt will ich meine Buch- und Zeitschriften-Sammlung erwähnen, die eine 400 Quadratmeter-Halle mit zwei Regalkilometern füllt. Ich bin nahezu täglich mitGedrucktem aus Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt.
……

* In meinem Studio independent medien-design waren zeitweise über 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einem Zeitraum von knapp 30 Jahren beschäftigt. »Gestaltet« bedeutet in diesem Fall, daß ich nicht jede Arbeit allein oder selbst gestaltet habe, sondern als Art Direktor die Aufträge gebrieft, konzipiert, korrigiert und freigegeben habe.

Siemens Medical Solutions: Im Magazin wurden aus verschiedenen Bereichen des Unternehmens Führungskräfte mit Zukunftsprojekten vorgestellt. Um keine Person bei der vorliegenden Ausgabe herauszuheben, aber auch nicht ein halbes Dutzend Köpfe auf dem Cover zu zeigen, wurde ein Interview mit John Naisbitt, einem Zukunftsforscher, zur Titel-Geschichte.

Plakat für eine Ausstellung Paul Eichingers in der Galerie Schumann’s in München.

Forum MLP: Die Vorgabe für den Fotografen Andreas H. Bitesnich lautete: den Kopf Reinhold Messners wie einen Felsbrocken darzustellen. Messner verwendete die Fotos aus dieser Portraitserie für viele seiner Publikationen. Sammlung Moser (Grafing) 2022.

Links: Heiliger Sebastian voAndrea del Castagno (1423–1457)
Rechts: Muhammad Ali im Studio bei der Fotoproduktion für das Esquire-Cover 4/68. George Lois zweiter von rechts.

Die Abbildungs-Beispiele sind nur teilweise eigene Werke. Um die Thesen zu erläutern zeige ich auch Arbeiten anderer Gestalter. Einer der wichtigsten ist George Lois (1931–2020), der durch seine Titel für Esquire Weltruhm erlangte. Am
bekanntesten ist sein Cover The Passion of Muhammad Ali, der Schmerzensmann mit Pfeilen in der Brust. George Lois ging regelmäßig in Museen und hat sich dort Anregungen geholt. Vorbild war in diesem Fall ein Gemälde, das den Heiligen Sebastian als Schmerzensmann darstellt. Muhammad Ali verweigerte 1967, zur Zeit des Vietnamkriegs, den Militärdienst und wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der Box-Weltmeister mußte auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Leistungsfähigkeit deshalb ins Gefängnis. Drei Jahre nach Erscheinen des Covers hob der U.S. Supreme Court das Urteil gegen Ali auf.

Klarheit kennzeichnet die Titelseiten der Zeitschrift Leica World, analog zum Image der Marke Leica. Keine Titelzeilen, nur die Liste der Fotografen, die im jeweiligen Heft vorgestellt werden. Diese Typozeilen sind so angeordnet, daß sie mit dem Bild in Beziehung stehen, im Idealfall das Bild steigern.

Die größte Herausforderung bei den Innenseiten besteht darin, allein durch Komposition und Proportion, ohne dekorative oder spielerische Elemente, zu gestalten.

Es gab und gibt Designer, die für eine Selbstbeschränkung bei der Verwendung von Schriften plädieren : Kurt Weidemann: »Wenn wir 95% aller Schriften verlieren würden, wäre das kein Unglück«.
Pierre Mendell benutzte lediglich ein paar Schriften und mußte am Ende seines Lebens feststellen, daß er immer noch nicht alle Ausdrucksmöglichkeiten von Bodoni und Futura ergründet hatte.

Paul Renner lehnte es ab, für jedes Thema eine andere Schrift zu verwenden: »keine Maskenverleihanstalt …«.

 

Beispiele für Einfachheit und Klarheit in der Zeitschriften-Cover-Gestaltung.

Sammlung Moser

independent Medien-Design und die Zürcher Partnerfirma Primafila hatten den Auftrag, für Bâloise einen Geschäftsbericht zu konzipieren und zu gestalten. Das Schweizer Unternehmen hatte in jenem Jahr finanzielle Probleme und man sah sich gezwungen, die Versicherungs-Tarife zu erhöhen. Wir schlugen vor, im Report das Thema offen zu kommunizieren. Dazu müßten wir bei den Vorstandssitzungen anwesend sein und die Gespräche und Diskussionen in Bild und Ton dokumentieren dürfen. Das Tonband konnten wir laufen lassen und für die Bildreportagen engagierten wir einen Fotografen. In der finalen Fassung wurde der Live-Mitschitt dann leider geglättet und von der eigentlichen Idee ist nur eine lauwarme Fassung übriggeblieben. Immerhin ist die klare, einfache Gestaltung erhalten geblieben.

Die Zeitschrift Brandeins hatte zu Beginn ein klares Coverkonzept: In der oberen Zone steht das Logo und die Themen des Heftes. Die untere Zone ist für das Titelfoto reserviert. Im Lauf der Zeit interpretierte Mike Meiré als Art Direktor seine eigenen Vorgaben freier und es gab auch reduzierte rein typografische Cover.
Sehr eindrucksvoll ist der Titel »Gleichheit ist nicht gerecht «. Manchen erscheint der Satz als Provokation, schließlich ist doch jeder für Gleichberechtigung. Man muß jedoch differenzieren: Gleichheit vor dem Gesetz ist selbstverständlich. Gleiche Chancen als Startbedingung ist ebenfalls anzustreben. Gleichheit als Ziel durch Umverteilung ist nicht gerecht, da sie den unterschiedlichen Talenten und Ambitionen zuwider läuft.